Los 305
Tudeschis, Nicolaus de und Panormitanus
(1386-1445)Lectura super libros Decretalium
Schätzung
60.000€ (US$ 64,516)
Abgabe von Vorgeboten möglich
Aus dem Katalog
Wertvolle Bücher
Auktionsdatum 8.10.2024
Einzigartiges Exemplar mit spannender Provenienzgeschichte - und Freigabe durch die Jewish Claims Conference
Panormitanus. - Tudeschis, Nicolaus de. Lectura super quinque libros Decretatium. Teil I-VII in 6 Bänden. Zweispaltiger Druck in einer gotischen Type zu je 60 Zeilen. Durchgehend rubriziertes Exemplar mit ausgefüllten Initialspatien in blauer und roter Tinte. 42 x 28 cm. Braunes, blindgeprägtes Halbleder über Holzdeckeln (teils beschabt, kleinere Wurmspuren, Vereinzelt mit restaurierten Fehlstellen) mit 2 Messingschließen. Venedig, Andreas Torresanus, 1482-1483.
Hain-Copinger 12313. GW 47874. Goff P-49. Proctor 4695. Pellechet 8341. Bodleian P-017. Hubay 2040. Schlechter-Ries 1333, 1334. Rhodes 1303. Sheehan P-26. Walsh 1882. CBB 3763, 3846. CIH 3369. IBE 5747, 5771, 5798, 5812, 5827. IBP 4131. IDL 4493. IGI 9753, 9780, 9797, 9812, 9829, 9846. ISTC ip00049000. – Vollständiges Exemplar in sechs Foliobänden der "Lectura super V libris Decretalium" des unter "Panormitanus" bekannten italienischen Theologen und Erzbischof von Palermo Nicolaus de Tudeschis (1386-1445) in einem illuminierten und zeitgenössisch gebundenen Exemplar. Es ist die sechste Ausgabe nach der ersten von Johannes von Köln und Johann Manthen (Venedig 1475-77), die dritte venezianische.
"Among the many names of distinguished printers that we meet with during this period, none is more famous than that of Andrea de Torresani of Asola. We have already seen that by the year 1482-3 he announced his edition of Nicolao Panormitano's Lecturae (siehe Zitat unten), to be printed in Jenson's type ..." (Brown, The Venetian Printing Press, 1891, S. 33). "In the year 1479, Jenson is said to have sold his type to Andrea de' Torresani de Asola, the father-in-law of Aldus Manutius. It is possible that he may have sold a set of matrices punched by his punches. Such a practice was not unknown among printers, and Andrea de' Torresani, in 1482-83, published the Lectura super prima Decretalium, which he declares to have been printed inclytis famosisque characteribus optimi quondam in hac arte magistri Nicolai Jenson Gallici, quo nihil praestantius nihil melius" (Brown, The Venetian Printing Press, 1891, S. 14).
Die sechs Bände datieren im Einzelnen und haben den folgenden Umfang: Band I. Venedig 3. II. 1482. 214 Bl. (erstes Blatt weiß). - Band II: 24. VII. 1483. 210 Bl. (erstes Blatt weiß), Band III: 13. III. 1483. 134 Bl. (erstes Blatt und die letzten beiden weiß). Band IV: 24. VII 1483. 130 Bl. (das erste und letzte weiß). Band V: 13. V. 1483. 212 Bl. (das erste und letzte weiß). Band VI: 27. V. 1483, 162 Bl. (das erste und letzte sowie Blatt 41 weiß).
Illumination
Die Szenen in den Miniaturen beziehen sich stets auf den Inhalt des betreffenden Bandes. Sie sind in leuchtenden Farben auf schwarzer Federzeichnung sorgsam angefertigt, wobei wohl nicht nur ein Künstler tätig war. Jede Szene ist mit schillerndem, punzierten Goldgrund hinterfangen, der die Fläche mit doppelten Streichlinien quer in Quadrate teilt, in denen jeweils ein Stempelchen eingedrückt wurde: eine Eichel bzw. ein Stern. Der Text beginnt jeweils mit einer großen Initiale (bis zu 9-zeilig) in vierfacher Farbigkeit auf ebenfalls punziertem Goldgrund. Von ihr läuft die vegetabile Bordüre mit akanthusähnlichem Schlingwerk in Rosé, Blau, Grün, Gelb, Rot und Grau um beide Kolumnen (meist drei- bis teils sogar vierseitig) herum. Die großen Blüten sind vielfarbig teils mit Goldstaub übermalt, die kleineren mit Blattgold gefüllt. Die Engel und die ganze Bordüre wird mit Blattgoldpunkten in roter Federwerkrahmung umspielt.
Das Wappenschild des ursprünglichen Besitzers, der die Bände illuminieren ließ, wird in jeder Darstellung von einem Engel gehalten. Das Schild zeigt einen absteigenden weißen Balken auf nachtblauem Grund, in dem drei gedrechselte Holzkreise (oder Rüben?) erschienen.
Miniaturen
1) Band I: Der palermitanische Bischof Nicolaus de Tudeschis in roséfarbenem weiten Gewand und mit Kappe kniet vor dem Papst Eugen IV. und überreicht ihm sein großes Rechtsbuch, die "Decretalia". Der Papst mit Tiara, die aus dem Bildrahmen herausragt, nimmt das prächtig gebundene purpurfarbene Buch entgegen (8,5 x 12 cm).
2) Band II: Im Werk über das Kirchenrecht zeigt die Miniatur einen Richter auf einer schweren Holzbank. Ein junger Mann rechts neben ihm weist anklagend mit ausgestreckten Finger auf einen Beschuldigten, der seine blaue Kappe verteidigend vor seine Brust hält (9 x 12,4 cm).
3) Band III: Nicolaus de Tudeschis in roséfarbenem Mantel über einer hellgrünen Kasel sitzt auf einer grauen Steinbank vor einem geschnitzten Holzpult und liest in einem aufgeschlagenen Folianten, dessen Schließen rechts herunterhängen. Auf einer Bank im Hintergrund liegt ein weiteres, leuchtend rot gebundenes Buch (8,8 x 11,8 cm; Goldgrund minimal abgerieben).
4) Band IV: Dieselbe Szene wie in Band III mit dem Autor auf einem beigefarbenem Sitz mit Volute an der Rückenlehne, wiederum in seinem roséfarbenen Mantel beim Lesen eines rotgebundenen, diesmal sehr viel kleineren Buches, das nur eine einzige Schließe hat. Die Bank im Hintergrund fehlt, der Boden ist hellgrün (9,2 x 9,6 cm).
5) Band V. Szene einer Messe: Auf dem mit einer weißen Zierdecke mit Spitzen bedeckten rosafarbenem Marmoraltar steht ein mit einer Patene gedeckter goldener Kelch. Darüber eine goldene Altartafel in rotem Rahmen mit zwei Heiligenfiguren. Vor dem Altar kniet der Priester mit dem Messdiener, beide mit gefalteten, betenden Händen (8,8 x 7 cm).
6) Band VI. Der Bischof Nicolaus im Habit mit weißer Tunika, grüner Toga mit roter Borte und weitem rotem Bischofsmantel (Kasel), blauer Halskrause und hohem Bischofshut traut ein junges Brautpaar: Links der schmucke Bräutigam in roséfarbenem Wams mit blauer Hose, rechts seine hübsche Braut in langem Kleid, das goldene Lockenhaar mit grüner Schleife gebunden (9,2 x 9,5 cm).
7) Band VII. (Seite 41). Gerichtsszene für das Buch „De accusationibus“ mit einem weltlichen Richter in grünem Mantel mit Zepter, der zwei Ankläger richtet, die gestikulierend, in roséfarbenen langen Gewändern links und rechts vor ihm stehen (9,2 x 10,2 cm).
Zustand: Vorsätze teils lose, vereinzelte Einträge und zeitgenössische Marginalien (15.-16. Jahrhundert), Band III mit kleinem hinterlegten Randausriss im Titelblatt, Vorsätze teils fleckig, nur ganz, ganz wenige, vereinzelte kleine Wasserflecke, sonst nahezu fleckenfrei. Einige Bände mit wenigen Wurmstichen und kleinen Wurmgängen, Titel teils minimal angestaubt, insgesamt in der allerbesten, frischen Erhaltung, auf bemerkenswert breitem, festen Papier (mit Wasserzeichen Bischofshut am Band, Armbrust).
Einbände
Die einheitlich zeitgenössischen Einbände sind am Rücken mit braunem Kalbsleder breit bezogen, das mit zahlreichen Stempeln geziert wurde, unter anderem einer großen und kleinen Rose im Rund, einer Rose im Quadrat und Herzblättern mit Rosenblüten - in vier Registern auf den Deckeln. Die Rücken sind jeweils über vier mächtige Doppelbünde gelegt und in den fünf Feldern mit je drei Bändern aus drei sich gegenüberliegenden Herzblättern und einer Reihe von vier kleinen Rosenstempeln geteilt. Die Stempel weisen auf eine Augsburger Werkstatt, die zwischen 1473 und 1498 nachweisbar ist (vgl. Kyriss, Gotische Einbände, S. 78, Nr. 91, Tafeln 185-186). Auch die hübschen Schließbeschläge sind bemerkenswert schön ornamentiert (mit punziertem Schriftzug "MARIA"), die Schließen greifen untypischerweise für deutsche Binder von oben nach unten.
Sehr selten sind alle sechs Bände zusammen. Die meisten Bibliotheken verfügen lediglich über einen oder mehrere Teile, nicht aber das Gesamtwerk. In der Berliner Staatsbibliothek, in der British Library und in der Bibliothèque Nationale in Paris (nicht in den Katalogen BMC und CIBN) gibt es den Druck überhaupt nicht, in München werden nur zwei inkomplette Exemplare bewahrt. Nach den Besitzstandsregistern des ISTC kann man weltweit überhaupt nur neun vollständige Exemplare nachweisen (in Deutschland in Stuttgart WLB und Würzburg UB), keine kompletten Exemplare in Wien, Madrid, in Washington und so weiter. – Tadellos erhaltenes, frisches und nur teils leicht fleckiges Exemplar, vereinzelt mit kleinen Wurmlöchlein sowie teils mit wenigen hs. Notizen der Zeit im Text; Band VII wenige Blätter mit geringfügigem Wasserrand.
Glücklicher Ausgang eines Abenteuers der Provenienzforschung
Zur Provenienz:
Das Werk stammt aus der Bibliothek der bekanntesten Münchner Bibliophilen des 16. Jahrhunderts Anna Reitmor, einer Tochter des Juristen und Schriftstellers Andreas F. Perneder (vgl. ADB XXV, 384f.), dessen Büchersammlung sie 1564 erbte. Auf dem Vorsatz aller Bände befindet sich jeweils ein längerer eigenhändiger Eintrag der Reitmor: "Diß puch gehört mir Anna Reitmorin zu München zue. ist weilent meines freuntlich vnd herzliebsten Vaters Andreen Pernöders Fürstlich Rats vnd Secretarien alhie zu München selig gewest. Hab Ich von weilent meinem lieben Prueder auch Andreen Pernöder Peeder Recht Licentiat vnd fürstlich Regiments Procuratorn zu Lanzhuet selig geerbt den 5. tag October ao. 1564. Psalm. 119. Herr Dein Wort ist mein trost gewest. Ich war sonst vergangen in meinem Elent. Anna Reitmorin manu propia s.".
Danach ist das Exemplar im jüdischen Antiquariat Julius Halle in München nachweisbar. Die Antiquarin Ida Halle "führte nach dem Tod ihres Mannes Julius Halle das 1889 gegründete, auf rare Alte Drucke (besonders Inkunabeln, Americana, Kupferstiche) spezialisierte Seltenheitsantiquariat J. Halle in München, Ottostraße 3a, weiter […]. Nach der NS-'Machtergreifung' gab Halle einen Teil des Lagers einem in die Niederlande flüchtenden Bekannten der Familie, Ernst Horwitz, zum kommissionsweisen Verkauf in den Niederlanden mit; einen anderen Teil konnte Emil Offenbacher, seit 1931 Angestellter, nach Paris transferieren. Sie selbst emigrierte, ebenfalls 1933, in die Schweiz und führte in Zürich den Antiquariatsbuchhandel fort. Die Münchener Firma wurde 1935 liquidiert, und die verbliebenen Bestände bei Karl & Faber in München und bei Graupe in Berlin versteigert" (Ernst Fischer, Verleger, Buchhändler & Antiquare, S. 117).
Die Auktion bei Paul Graupe, auf der der "Panormitanus" am 10. Mai 1935 angeboten wurde, war aus heutiger Sicht ein Zwangsverkauf jüdischen Besitzes, die Bücher wurden, laut Ida Halle, weit unter dem eigentlichen Marktwert angeboten. Allerdings wurde das Werk (Losnummer 144/29) nicht verkauft - und fand auch auf einer Folgeauktion keinen Käufer. Ida Halle bat daraufhin um die Beendigung des Liquidationsprozesses, was immerhin zur Rückgabe der nichtverkauften Bücher führte. Da ihrer Bitte nach der Erlaubnis zur Fortführung des Geschäfts nicht entsprochen wurde, gab es auch keinen weiteren Verkauf in Deutschland - jedenfalls der wertvollsten Titel des Antiquariats. Ida Halle übersiedelte dann endgültig in die Schweiz zu ihrer Tochter Bessy Neu-Halle, wo sie wahrscheinlich die Bücher mitnahm, es sei denn sie hätte vorher noch privat verkaufen können. Jedenfalls taucht der "Panormitanus" dann erst wieder wohl nach dem Krieg im Antiquariat M. Edelmann, in München auf, der es dann an einen privaten Sammler verkaufte. Dieser brachte es zur Auktion bei Bassenge, wo es 2015 verkauft wurde.
Inzwischen hat sich die Provenienzforschung umfangreich des Falles angenommen und weltweit nach möglichen Erben von Ida Halle gesucht, von denen jedoch keine mehr zu leben schienen. Die letzten Nachfahren von Bessy Neu-Halle (Werner Neu-Aeberhard und Viviane Saalmann-Neu) lebten bis in die siebziger Jahre. Das Exemplar wurde von den Provenienzforschern bei Christie's zur Erforschung der Provenienz zunächst angehalten, woraufhin es dann dem Einlieferer zurückerstattet werden musste, da laut Christie's der Fall nicht eindeutig geklärt werden konnte.
Daraufhin hat Herr Dr. Markus Brandis von Bassenge Buchauktionen sich eine erste Auskunft von der Holocaust Claims Processing Office of the New York State Department of Financial Services geholt, wo bestätigt wurde, dass das Exemplar unbelastet und handelsfrei wäre, wenn keine Erben mehr nachweisbar sind. Jedoch selbst, wenn es diese gäbe, würden wahrscheinlich keine Ansprüche bestehen können. Als weiteren Schritt stellte Herr Brandis den Fall beim Workshop der "Arbeitsstelle Provenienzforschung - NS-Raubgut " am 16.-17. Mai 2024 einer Gruppe der führenden deutschen Provenienzforscher in einem Vortrag mit Powerpoint-Präsentation an der Staatsbibliothek Hamburg vor, damit der Fall möglichst weit bekannt wurde und das Exemplar endgültig wieder dem Handelskreislauf zugeführt werden konnte.
Schließlich kontaktierte Herr Brandis noch ein zweites Mal die HCPO in New York und bat um Hilfe bei der Auffindung möglicher Erben, dieses Mal mit Erfolg. Durch ein überaus großzügiges Angebot des Einlieferers wie auch ein weitmögliches Entgegenkommen des Auktionshauses konnte mit den Erben eine Vereinbarung über eine faire und gerechte Lösung erzielt werden, so dass mit dem hoffentlich guten Verkauf der "Panormitanus" nunmehr nicht nur wieder in den Handelskreislauf gegeben, sondern auch exemplarisch eine teilweise Wiedergutmachung geschehenen Unrechts in der Zeit zwischen 1933 und 1945 erzielt werden kann.
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